Liebe Abiturienten, sehr geehrte Eltern,

liebe Kollegen und Gäste,

 

ich habe - per ordre de mufti gewissermaßen - die ehrenvolle Aufgabe, die diesjährige Abiturrede der Lehrer zu halten.

Natürlich gibt es auch dafür Vorschriften. Die AV Abiturrede sagt: Die Einzelrede dauert 10 Minuten, ihr Thema ist ausschließlich das Abitur, und die Gliederung lautet:  

            1. Problemanalyse, 2. Lösungsalternativen, 3. Fazit.

 

Also zu 1.

Abitur heißt - die Lateiner wissen es natürlich  : Abgang. Abgang von der Lehranstalt.

Das klingt nicht schön, eher abwertend, beinahe unrühmlich. Es erinnert an vorzeitige Abgänge und Entlassungen. Das kann nicht gemeint sein.

 

Ein netteres Wort ist die Reifeprüfung. Aber was ist das: Reife?

 

Schaut man in Grimms Wörterbuch, so liest man: Reif ist, was abgeschnitten und geerntet werden kann; was hart war ist weich, was sauer war, mild und süß geworden. Sie werden also heute abgeschnitten von der Alma mater, der gütigen Nährmutter. Und damit meint die Schule sich selbst.

 

Nun: Nahrung - geistige Nahrung - gab es schon. Die Statistik sagt, das ein durchschnittlicher Abiturient heute 10000 deutsche Wörter kennt - davon aber mindestens 500, die man nicht drucken kann. Er beherrscht ca. 4000 Vokabeln einer Fremdsprache, 20 chemische Elemente, 40 physikalische Gesetze, 100 mathematische Formeln, kann zu vielen Kunststilen und Epochen etwas Richtiges sagen. Sie besitzen also das, was man Allgemeinbildung nennt.

 

Aber: Güte?  Güte steht nicht im Rahmenplan. Man kann sie nicht anordnen, und sie gedeiht schlecht unter Stressbedingungen. Sie ereignet sich nur, hin und wieder.

 

Meine Schulzeit war eine Zeit der Kritik. Affirmation - die  Zustimmung zum Bestehenden - war peinlich. Immerzu mussten wir kritisieren: Den Staat, die Wirtschaft, die Gesellschaft, die Schule, die Lehrer. In Erinnerung geblieben ist mir ein Lehrer, der auf eine heftige Attacke antwortete: "Ach Jungs, lasst doch mal gut sein". Und da passierte etwas in uns. Das war sie vielleicht, die schulische Güte: Lernen können, ohne Angst, ausgeschlossen zu werden, weil man Fehler macht, oder anders denkt, anders fühlt, oder anders ist.

 

Zurück zum Abitur. Natürlich gibt es auch eine bürokratische Übersetzung. Sie heißt: Hochschulzugangs-berechtigung. Sie haben das Recht, sich an nahezu allen europäischen Universitäten und Fachhochschulen zu bewerben. Ein Recht, dort auch zu studieren - womöglich im Studiengang Ihrer Wahl - haben Sie nicht.

Die aufgestellten Hürden heißen: Numerus Clausus, Eingangsprüfung, Auswahltest.

 

Und damit sind wir tatsächlich bei einem Problem. Was sollen Sie tun, wie sich entscheiden? Lohnen sich - mit Francois Villon gesprochen - für Sie die geraden Wege, oder die Umwege?

 

Wir sind damit beim 2. Punkt angekommen, den Lösungsalternativen. Das ist in der Abiturrede die Stelle, wo die guten Ratschläge erteilt werden.

Leider muss ich Sie hier enttäuschen. Ich bin in einem Dorf aufgewachsen. Ich habe vor 40 Jahren studiert; mein Fach, die Mathematik, gibt es noch, aber nicht mehr meinen Studiengang. Ich habe nie ein soziales Netzwerk betreten, nie Facebook, Twitter oder WhatsApp benutzt. Kurz: In der Welt, in der Sie sich bewähren müssen, kenne ich mich nicht gut aus.

 

An Ratgebern herrscht natürlich kein Mangel, sie bedrängen uns geradezu. Man findet dort vor allem einen Rat: Ändere nicht die Welt - das ist zu schwer - ändere einfach dich selbst. Sei immer optimistisch, leugne deine Wurzeln, streife deine Herkunft ab, brich mit der Tradition. Tu so, als ob du dich jeden Tag neu erfinden könntest.  Bloß: Die Schuhsohlen kann man abstreifen, das "Vaterland" - das, was uns geprägt hat, nicht.

 

Im Wörterbuch bin ich aber doch auf einen guten Ratgeber gestoßen. Er heißt Christian Fürchtegott Gellert, wurde vor fast genau 300 Jahren geboren, war Professor für Poesie, Beredsamkeit und Moral, Lehrer des jungen Goethe. Er sagt zum Thema Reife:

            "Vergiss nicht, dass die Miene des reifen Mannes den Jüngling nicht ohne Ausnahme kleidet".

 

Heißt: Habe den Mut zur Reife und Unreife. Entscheide selbst, wann du sauer sein willst, und wann mild, wann hart und wann weich.

Und das haben Sie gezeigt. Sie haben eben erst den "Abistreich" sorgfältig geplant, umsichtig durchgeführt und verantwortungsvoll geleitet. Und Sie waren gleichzeitig witzig, ausgelassen, von ansteckender Freude, lustig und albern.

 

Noch einen zweiten Rat von Gellert:

            "Man soll nicht voreilig sein in seinem Fleiß, sondern seine Reife abwarten".

 

Auch das haben Sie - intuitiv - beherzigt. Es ist kein Lob der Faulheit, aber eine Kritik an Leistungsdruck und Anpassung: Der sinnentleerte Fleiß macht nicht erfolgreich, sondern nur beflissen und ängstlich.

 

Es ist nicht zu überhören: Diese Ratschläge stammen aus einer Zeit, in der man noch Zeit hatte. Sie - die Abiturienten -  wurden in 12 Jahren zum Abitur gehetzt, eine reifebeschleunigte Generation, und heute sollen Sie geerntet werden.

 

Nein. Lassen Sie sich Ihre Jugend nicht stehlen. Lassen Sie sich nicht benutzen - nicht von Unternehmen, nicht von der Familie. Nehmen Sie sich Ihre Zeit: Sie gehört Ihnen, zum Nachdenken und Orientieren.

 

Wolf Biermann, der Sänger und Poet, sagt das in einem Lied. Es heißt: Ermutigung. Ich kann es nicht vorsingen, aber zwei Verse will ich vortragen.

 

            Du, lass dich nicht verhärten

            in dieser harten Zeit.

            Die allzu hart sind brechen,

            die allzu spitz sind, stechen

            und brechen ab sogleich.

 

            Du, lass dich nicht verbrauchen,

            gebrauche deine Zeit.

            Du kannst nicht untertauchen,

            du brauchst uns, und wir brauchen

            grad deine Heiterkeit.

 

Das war eigentlich schon: 3. Mein Fazit.

Gehen Sie nicht ab, sondern aus. Feiern Sie, heute, morgen. Und nehmen Sie Ihre Eltern mit, sie haben es verdient; sie sind stolz auf Sie, sie haben Ihnen den Schulbesuch ermöglicht.

 

Gehen Sie auch künftig aus, so wie es im Volkslied heißt: Geh aus mein Herz und suche Freud.

Behalten Sie also nicht nur Ihr Fachwissen, sondern auch den Zugang zu Literatur, Musik, Kunst und Wissenschaft, den Ihnen die Schule öffnen wollte.

Behalten Sie die Schule in Erinnerung, so, wie sie für Sie war; ich hoffe, es gab auch für Sie gute Zeiten.

Vielen Dank fürs Zuhören.

 

Th. Lauer

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